Der Name Julie Reisserová findet sich im Grove Dictionary of Music aus dem Jahre 1954 mit dem Vermerk „erste bedeutende tschechische Komponistin“ versehen, im Jahre 1989 zudem in einem kurzen Artikel in der deutschsprachigen Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart. In den späteren Ausgaben beider Lexika ist ihr Name bereits verschwunden. Aus dem Jahre 1948 stammt eine kurze Monografie von Jiřina Vacková Julie Reisserová: osobnost a dílo (Ihre Persönlichkeit und ihr Werk), ein Artikel über die Komponistin ist ebenfalls im Tschechoslowakischen Musiklexikon aus dem Jahr 1965 zu finden. Bis auf einige Zeitungsartikel ist das praktisch alles, was über Julie Reisserová je publiziert worden ist. Das Verschwinden ihres Namens von der musikalischen Landkarte ihrer Heimat ist wahrscheinlich sowohl auf ihren frühen Tod als auch auf das Verbot der öffentlichen Aufführung ihrer Werke in der Tschechoslowakei nach 1948 und auf die Nichtverfügbarkeit von Notenmaterial, das in den großen öffentlichen Bibliotheken kaum vorhanden ist, zurückzuführen.
Julie Reisserová
Biografie
Julie Emilie Aloisie Marie Kühnlová (Kühnelová), Tochter von Vojtěch (Adalbert) Kühnl (Kühnel, 1859–1905) und Marie Majdalena Neanderová (1862–?), wurde am 9. Oktober 1888 im Prager Pfarrbezirk St. Aegidius geboren. Ihre Mutter war eine hervorragende Pianistin, der Vater eine bedeutende Persönlichkeit des Prager Musiklebens. Der ältere Bruder Vojtěch (30.04.1886–09.02.1942), war Ingenieur, ist aber vor allem bekannt durch die erste tschechische Übersetzung von Richard Wagners Siegfried für die Erstaufführung des Werkes am Nationaltheater in Brünn im April 1931. Das Umfeld einer bürgerlichen katholischen Familie ermöglichte beiden Kindern eine gute Ausbildung. Julie studierte Klavier bei Adolf Mikeš (1864–1939), die Grundlagen der Musiktheorie bekam sie von Václav Talich (1883–1961) vermittelt. Ungefähr ab 1914 lernte sie Gesang bei Richard Figar (Hofer, 1866–1921), ein Fokus lag auf dem dramatischen Fach und Wagner-Rollen. Gleichzeitig lernte sie fremde Sprachen, was es ihr später ermöglichte, selbst Englisch und Französisch zu unterrichten. Bereits im Jahre 1911 gehörte sie zum Kreis der Intellektuellen um den Musikhistoriker Zdeněk Nejedlý (1878–1962), des ersten Bildungsministers nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. Ministers für Schulwesen, Kunst und Wissenschaft nach dem kommunistischen Putsch im Jahre 1948. In Nejedlýs Kreis lernte sie unter anderen auch den Musikologen Vladimír Helfert (1886–1945) und den Komponisten und Dirigenten Karel Boleslav Jirák (1891–1972) kennen. Im Jahre 1919 begann sie bei Josef Bohuslav Foerster (1859–1951) mit dem Studium der Komposition.
Ihre Heirat mit dem Diplomaten, Musiker und Autor wissenschaftlicher Artikel über Bedřich Smetana, Jan Reisser (1891–1975), im Jahre 1921 eröffnete ihr neue Horizonte. Während ihres Aufenthaltes mit ihrem Mann in Genf und Bern in den Jahren 1921–1929 hatte sie die Möglichkeit, ihre musikalische Ausbildung bei Ernst Hohlfeld (1886–1973) zu vertiefen, sie dirigierte Chöre und Orchester und konnte auch, dank der Nähe zu Paris, mit Albert Roussel (1869–1937) arbeiten. Ihr Kontakt mit Roussel führte dann auch zu ihrem Engagement für die Uraufführung seiner komischen Oper Le Testament de la tante Caroline in Olmütz am 14. November 1936.
Nachdem das Ehepaar Reisser die Schweiz verlassen hatte, war es der Komponistin aufgrund der Position ihres Mannes als Botschafter zuerst in Belgrad (1930–1933) und dann in Kopenhagen (von Oktober 1933 bis August 1936) ermöglicht, zahlreiche Kontakte mit einflussreichen Persönlichkeiten anzuknüpfen. Besonders fruchtbar war für sie der Aufenthalt in Dänemark, da sie in Kopenhagen Gelegenheit hatte, einige ihrer Kompositionen zu veröffentlichen und sich bei Veranstaltungen in verschiedenen Botschaften einen Namen als begabte Musikerin zu machen. Dank der beruflichen Tätigkeit und des wachsenden Ansehens ihres Mannes konnte sie ihre Musik an immer prestigeträchtigeren Orten aufführen. Ein wichtiger Wendepunkt in ihrer Karriere war das Festival im Rahmen des Ersten internationalen Musik-Kongresses (Le premier congrès international de la musique), das im September 1935 in Vichy stattfand. Unter dem Vorsitz von Richard Strauss und dessen Vertreters Albert Roussel kamen viele französische und ausländische Komponisten zusammen. Im Parc des Sources, in der Nähe des Palais de Congrès, weckte das Pastorale maritimo Julie Reisserovás unter der Leitung von Louis Fourestier das Interesse der anwesenden Journalisten und Musiker. Gustave Samazeuilh schrieb in La Revue hebdomadaire über „Madame Reisser, deren delikate Pastorale die tschechoslowakische Schule repräsentiert hat“. Ein weiterer vielversprechender Auslandskontakt war jener mit Sophie Drinker, die die Komposition und Aufführung von Julie Reisserovás Chor Slavnostní den (Feiertag) durch den Frauenchor The Montgomery Singers of Philadelphia initiierte.
Der frühe Tod von Julia Reisserová im Sanatorium Prag-Podolí am Nachmittag des 25. Februars 1938 setzte ihrer Karriere ein jähes Ende. Der französische Arzt, Literaturkritiker und Musikologe René Dumesnil bemerkte zu ihrem musikalischen Vermächtnis: „Es drückt edlen Geist und bemerkenswerte Individualität sowie tiefe Aufrichtigkeit aus. Und genau diese ihre Eigenschaften schätzten alle, die sie kannten und heute ihren Tod beklagen.“ Am 11. April 1938 sendete der Rundfunk in Dänemark ein Gedächtnis-Konzert, auf dem Programm standen mehrere ihre Werke, einschließlich des Liederzyklus Březen (März) und Pastorale maritimo unter der Leitung von Erik Tuxen.
Text: Jean-Paul C. Montagnier
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Ries & Erler Verlags in Berlin