Referate, 9. Oktober
Moderation: Kelly St. Pierre
15.00 CET | Einleitungswort
Irena Radová, Dekanin der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität
Helena Spurná, Programmdramaturgin des 1. Tages des Kolloquiums
15.25 CET | Michael Beckerman (New York University)
„Ich habe das Recht, anders zu sein als ich selbst“. Martinů und die Avantgarde (EN, online)
Was meint Martinů, wenn er sagt, dass er nie ein Avantgarde-Komponist gewesen sei? Stimmt das und was kann es uns über seine Vorstellung von der Avantgarde sagen? Ist seine Abkehr von ihr einfach eine Frage des Vergesslichkeit? (Wir erinnern daran, dass Martinů mehrmals vergessen hat, dass er bestimmte Werke geschrieben hatte.) Ein Versuch, seine eigene Vergangenheit willkürlich umzuschreiben? Oder spiegelt es in einem tieferen Sinne die Art und Weise wider, wie der Komponist sich selbst sah? Der Vortrag beginnt mit diesen Fragen und wirft weitere auf, die sich auf die Unterschiede zwischen den Ansichten der Avantgarde in den 1920er und 1930er Jahren, in den 1950er Jahren und heute beziehen, und fragt, warum insbesondere Universitäten, die selbst äußerst konservativ sind, die Avantgarde immer noch als irgendwie ethischer, und traditionelleren Ansätzen überlegen aufwerten.
15.50 CET | Helena Spurná (Universität Ostrava, Institut für Kunstgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der Tschechische Republik)
Vom Theater angezogen. Komponist Emil František Burian (1904–1959) (EN, präsent)
Als 1999, nach 70 Jahren des Wartens, Burians „Jazz-Oper“ Bubu von Montparnasse (1929) an der Prager Staatsoper endlich aufgeführt wurde, war das Publikum nach der Premiere völlig ratlos. Da es sich um eine Art Modellinszenierung handelte, bei der das künstlerische Team mit großem Respekt an die Partitur heranging, richteten sich die Zweifel gegen das Werk selbst, das nach den damals verfügbaren Informationen eine anspruchsvolle Oper mit allen Attributen avantgardistischer Poetik versprach. Eine Frage stand im Raum: Hatte Burian dies wirklich beabsichtigt, oder hatte er es sich in seiner Unreife und Unerfahrenheit einfach nicht vorstellen können, wie seine Oper tatsächlich klingen würde? Die Aufführung enthüllte deutlich den Widerspruch zwischen dem übermäßig dichtbesetzten Orchester und der Verständlichkeit des gesungenen Wortes, die Burian von den Sängern streng verlangte. Obwohl dieses Werk in gewisser Weise eine Sonderstellung in seinem Werk einnimmt, weist es einige Merkmale auf, die für Burians kompositorisches und künstlerisches Schaffen typisch sind. Der Beitrag konzentriert sich auf eine kurze Charakterisierung des Komponisten Burian und und zeigt den vielfältigen Einsatz von Musik in seinem Werk auf. Es wird versucht, nüchterne Antworten auf die Fragen zu geben, die sich im Zusammenhang mit ihm immer wieder stellen: Warum wird seine Musik so wenig gespielt und hat das nur äußere Gründe? Wie ist der Zustand des Quellenmaterials, auf dessen Grundlage analytische Erkenntnisse gewonnen werden können? Welchen Teil seines riesigen Vermächtnisses kann Emil František Burian, einer der Vorreiter der europäischen künstlerischen Avantgarde, uns heute vermitteln?
16.15 CET | Brian Locke (Western Illinois University)
Von der „Jazzová revue“ zur Geopolitik: Die musikdramatische Transformation des Befreiten Theaters 1931–1933 (EN, online)
Das 1926 gegründete Befreite Theater war ursprünglich eine Theatersektion der jungen tschechischen Avantgarde-Bewegung Devětsil. Die Truppe vertrat Einflüsse des Surrealismus, Futurismus, Poetismus und Jazz und „befreite“ das Prager Theaterpublikum von veralteten gesellschaftlichen Normen und kulturellen Formen. Bis 1928 hatte sich sein Hauptkern aus vier Künstlern verschiedener Disziplinen herausgebildet: die Komiker Jiří Voskovec und Jan Werich, der Regisseur Jindřich Honzl und der Komponist Jaroslav Ježek, die zusammen über zehn Jahre hinweg zwanzig Theaterstücke mit Musik (Musicals) produzierten. Das Befreite Theater hat bald seine Produktionen als „Jazz-Revue“ angekündigt, wobei Ježeks Musik einen zentralen Aspekt der Handlung und ein Schlüsselelement in der wachsenden Popularität des Theaters darstellte. Die regelmäßigen improvisierten sogenannten Vorbühnen der Komiker haben immer aktuelle Ereignisse in der Tschechoslowakei und außerhalb behandelt. Doch mit dem Stück Caesar im Jahr 1932 schlug das Künstlerteam einen neuen, mutigen Weg ein: Es wollte die geopolitische Situation der damaligen Zeit durch eine absurde Optik reflektieren und sich dabei niemand Geringeren als den italienischen „Duce“ Mussolini vornehmen. Der Höhepunkt dieser Bemühungen war das Stück Der Esel und der Schatten, ein Angriff auf Nazideutschland nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand im Jahr 1933. Ježeks Beitrag spielte eine entscheidende Rolle in diesem neuen musikdramatischen Konzept, in dem kosmopolitische und frei denkende Künstler „befreite“ Ideale inmitten der sich nähernden Wellen des Totalitarismus hochhalten konnten.
– Pause 20 Minuten –
17.00 CET | John Gabriel (Melbourne Conservatorium of Music)
„…dass in dieser Oper der Jazz zum ersten Mal zu dramatischer Verwendung kommt“: Flammen von Erwin Schulhoff und die „dramatische Verwendung“des Jazz (EN, online)
Erwin Schulhoff war einer der führenden Komponisten des Kunstjazz in Mitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen, also des Jazz, der zur Kunst „erhoben“ wurde. Als Schulhoff an seinen Verlag, die Universal Edition in Wien, geschrieben hat, er arbeite an einer Oper, in der „Jazz zum ersten Mal dramatisch eingesetzt wird“, erwartete dieser offensichtlich etwas wie eine Zeitoper, eine jener jazzbeeinflussten Opern der 1920er Jahre wie Ernst Kreneks Jonny spielt auf oder Kurt Weills Dreigroschenoper. Stattdessen hat er eine Oper mit einer „mystisch-philosophischen und psychologischen Handlung“ und einer so dichten Chromatik erhalten, dass die Partitur kaum auf dem Klavier spielbar war. Erst nachdem er die Ablehnung der UE erhalten hatte, erklärte Schulhoff, er versuche nicht, eine Zeitoper zu schreiben, sondern etwas Ernstes und Anspruchsvolles, das den Test der Zeit bestehen könne. Ähnlich wie die Vertreter der Universal Edition haben auch moderne Wissenschaftler und Kritiker Schwierigkeiten, Schulhoffs Ruf als Kunstjazz-Komponisten mit der begrenzten Verwendung des Jazz in der Oper in Einklang zu bringen und diesen Jazz in den Kontext des ansonsten völlig expressionistischen und symbolistischen Inhalts der Oper zu stellen. Ich verwende in meinem Referat Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, die mir als Rahmen für die Analyse von Schulhoffs Schriften, Korrespondenz und Musik sowie der paradigmatischen Zeitoper seiner deutschen Zeitgenossen gedient hat. Ich versuche zu erklären, was Schulhoff mit der „dramatischen Verwendung“ von Jazz in der Oper meinte (und warum er behaupten konnte, der Erste gewesen zu sein, der dies tat), und die Beziehung seiner Flammen zur Zeitoper zu erklären, einem Genre, von dem sie sich sehr unterscheidet, dem es aber dennoch in gewissen Details sehr ähnelt.
17.25 CET | Miriam Weiss (Universität Heidelberg)
„Die Ironisierung eines tragischen Geschehens“. Dramatische Jazz-Funktionen in Schulhoffs Oper Flammen (EN, präsent)
Nach dem Ersten Weltkrieg eroberte der Jazz die Tanzsäle der europäischen Metropolen und auch Komponisten ließen sich von der Musik aus der „Neuen Welt“ fesseln. Wie kaum ein anderer Musiker der Zeit hat Erwin Schulhoff den Jazz in zahlreichen Genres, von Klavier-, Kammer- und Ballettmusik bis hin zu Sinfonie, Oper und Oratorium verwendet. In den 1920er Jahren verstand er sich selbst zunehmend als Komponist, der Jazz als „Kunstjazz“ dem Konzertpublikum zugänglich machen wollte. Schulhoffs einzige Oper Flammen ist eine seiner umfangreichsten Kompositionen. Mit Hilfe des Jazz wird der moralische und psychische Niedergang des Protagonisten Don Juan musikalisch nachgezeichnet. Schulhoff zeigt hier einen neuen Aspekt seines „Kunstjazz“: Das Jazzidiom verschmilzt er nicht mit dem musikalischen Kontext, sondern es wird als eigene musikalische Ebene hörbar – eine Jazzband, die sich vom Sinfonieorchester abhebt. Darüber hinaus werden die mit dem Jazz verbundenen Klischees entscheidend verändert. Während in Schulhoffs anderen, vom Jazz inspirierten Werken vor allem die Idee des „vitalen“ und „ekstatischen Rhythmus“ in Verbindung mit einer positiv konnotierten Erotik dominiert, wird der Jazz in seiner Oper zum Sinnbild für Don Juans destruktiven Sexualtrieb. Mein Vortrag wird zeigen, wie Schulhoff den Jazz in sein dramatisches Konzept integriert und in die Charakterisierung des Protagonisten einbezieht.
17.50 CET | Norbert Biermann (Universität der Künste Berlin)
Rekonstruktion der Instrumentierung von Jaromír Weinbergers Frühlingsstürme. (EN, präsent)
Weinbergers erste Operette Frühlingsstürme wurde am 20. Januar 1933, kurz vor der Machtergreifung der Nazis, in Berlin uraufgeführt und nur wenige Wochen danach musste sie von der Bühne abgesetzt werden. Obwohl bekannt ist, dass die Operette nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tschechoslowakei aufgeführt wurde, war keine vollständige Partitur verfügbar, als die Komische Oper Berlin 2017 beschloss, sie 2020 wieder auf die Bühne zu bringen. Ich wurde beauftragt, die Instrumentierung zu rekonstruieren, wobei ich hauptsächlich als Grundlage den gedruckten Klavierauszug verwendet habe. In meinem Vortrag werde ich Einblicke in meine Recherchen zum Werk, die verwendeten Quellen und den Arbeitsprozess wiedergeben.
18.15 CET | Jeremy Zima (Wisconsin Lutheran College)
Christophorus Franz Schrekers als ironische Zeitoper (EN, online)
Wohl kein deutscher Komponist hat im Laufe der Weimarer Republik einen größeren Schicksalsschlag als Franz Schreker erlebt. 1920 war er auf dem Höhepunkt seines beruflichen und von den Kritikern gefeierten Erfolgs: In jenem Jahr wurde er von der Presse zum „Messias der deutschen Oper“ erklärt und zum Direktor der Berliner Hochschule für Musik ernannt. Sein Erfolg verblasste jedoch, und gegen Ende der 1920er Jahre fühlte er sich verbittert und von seinen eigenen Schülern in den Schatten gestellt. Darüber hinaus war er zunehmend immer mehr unzufrieden mit dem Aufstieg der musikalischen und technologischen Moderne einerseits und der Popkultur andererseits. Während Schrekers private und offizielle Korrespondenz ein Zeugnis von seinen Ängsten und Bedenken hinsichtlich der Richtung des deutschen Musiklebens ablegt, die Versuche, seine Position auf den Opernbühnen beizubehalten nicht nach. Mein Beitrag zeigt, wie Schreker seine beruflichen und kreativen Ängste in seiner Oper Christophorus (1925–1929) verarbeitet und dabei ironische Kritik an den aktuellen Stimmungen der deutschen Oper, insbesondere der Zeitoper, übt. Obwohl Christophorus auf dem Höhepunkt der Zeitopern-Begeisterung der späten 1920er Jahre geschrieben wurde und die Merkmale moderner urbaner Kultur aufweist, darunter Jazzmusik und Kabarettatmosphäre, ist dieses Werk keine „Zeitoper“ im üblichen Sinne. Es ist nicht eine Homage an die Moderne, sondern problematisiert den Zusammenbruch traditioneller Autoritätsstrukturen und verwendet jazzinspirierte Musik als Soundtrack zum Missbrauch des Opiums und von psychologischen Traumata.
– Pause 20 Minuten –
19.00 CET | Lubomír Spurný (Masaryk University), Vlasta Reittererová
Alois Hába: Auf der Suche nach Neuer Zeitgenössischer Musik (EN, präsent)
Ab Anfang der 1950er Jahre hat Alois Hába etwa 40 Werke geschrieben, hauptsächlich Kammermusik. Obwohl er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgehört hat, in verschiedenen Tonsystemen zu komponieren und sich mit der Dodekaphonie und Weberns serieller Musik auseinander zu setzen, hat er in dieser Zeit im Allgemeinen nicht nach neuen Genres gesucht und ist auch nicht zu Stilen der Avantgarde, auch verspätet, zurückgekehrt. Hábas Schaffensperiode nach dem Krieg mag deutlich anders erscheinen, doch seine künstlerischen Ansätze sind in vielerlei Hinsicht konsistent geblieben. Als Beweis dafür dienen seine beiden Besuche der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt 1956 und 1959. Bei beiden Gelegenheiten wollte er seine eigenen Ansichten propagieren und bestätigen. Hába war der erste tschechische Komponist, der aktiv an den Darmstädter Kursen teilgenommen hat. Man könnte zwar argumentieren, dass seine Besuche nur Episoden waren und dass die Avantgarde der Nachkriegszeit erst in den 1960er Jahren durch andere Komponisten in der tschechischen Musik stärker zum Ausdruck kam, doch es steht außer Frage, dass Alois Hába durch seine Teilnahme an den Veranstaltungen die damaligen Beschränkungen überwunden und so den Weg für den Aufstieg einer jüngeren Generation von Musikschaffenden gebahnt hat. Darüber hinaus war er in Darmstadt Zeuge der Etablierung so herausragender Persönlichkeiten der Neuen Musik wie Pierre Boulez, Karel Goeyvaerts, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen.
19.25 CET | Gwyneth Bravo (New York University Abu Dhabi)
Inszenierung der Todes: Die Vorstellung des Todes in Opern aus Prag und Theresienstadt. (EN, online)
Angesichts der traumatischen Geschichten des 20. Jahrhunderts, die das Leben vieler Komponisten geprägt haben, deren Opernwerke im Mittelpunkt dieser Konferenz stehen, ist die Aufgabe, in sinnvollen historischen Begriffen darüber zu schreiben, äußerst schwierig und zwangsläufig mit umfassenderen Fragen im Zusammenhang mit Geschichtsschreibung, Darstellung und Erinnerung verbunden. Mein Beitrag untersucht diese Geschichten anhand von drei Opern von Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann – Flammen, Der Sturz des Antichrist und Der Kaiser von Atlantis. Was diese Werke als gemeinsames Thema haben, ist ihre Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Problem der modernen Wahrnehmung des Todes und des Bösen als Phänomen des 20. Jahrhunderts, wobei jede dieser Opern – indem sie eine dramatische Begegnung mit Tod und Tyrannei inszeniert – uns dazu herausfordert, unsere Vorstellungen von Souveränität in Bezug auf die Politik des Lebens und des Todes zu überdenken. Aufbauend auf der Philosophie und Kritik des 20. Jahrhunderts als Rahmen für die Erforschung der Inszenierung des Todes in diesen Werken – eine Entwicklung, die ich in meiner demnächst erscheinenden Monographie „Staging Death: Opera’s Mortal Imagination in Works from Prague to Theresienstadt“ darstelle – untersucht diese Präsentation die vielfältigen Wege, auf denen diese Opern eine „soziale Fiktion“ und „Vorstellung des Todes“ reproduzieren, vermitteln und erschaffen, was für das Verständnis sowohl der europäischen als auch der deutsch-jüdisch-tschechischen Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung ist.
19.50 CET | Rachel Bergman (Augsburg University, Minneapolis)
Antroposophie und Der Sturz des Antichrist von Viktor Ullmann (EN, online)
Viktor Ullmanns Oper Der Sturz des Antichrist aus dem Jahr 1935, die auf Albert Steffens gleichnamiger anthroposophischer „dramatischer Skizze“ basiert, präsentiert uns zwei sich ergänzende Geschichten des Guten und des Bösen und die inneren Mechanismen von Rudolf Steiners Anthroposophie. Der Text legt nicht nur ein allegorisches und anthroposophisches Narrativ nahe. Ullmann erweitert diese Erzählung auch in mehreren wichtigen Punkten: Er vertont jeden Akt so, dass er die drei verschiedenen Welten von Steffens Text (physische Welt, Seelenwelt und geistige Welt) darstellt. Er greift in Schlüsselmomenten der Oper auf Rudolf Steiners Ansichten zur Musik zurück; er entwickelt ein kompliziertes System von Leitmotiven; und er baut in den letzten Akt er zwei bedeutsame Zitate ein.