Musik: Arnold Schönberg (1874–1951)
Text: Robert Franz Arnold (1872–1938) nach Jens Peter Jacobsen (1847–1885)
„Ich hoffe, dass es in meiner Musik einen Sonnenaufgang geben könnte, wie er im Schlusschor meiner Gurre-Lieder dargestellt wird. Es könnte die Verheißung eines neuen Tages der Sonne in der Musik kommen, wie ich sie der Welt anbieten möchte,“ so schrieb Arnold Schönberg im Jahre 1937 in seinem Essay „Wie man einsam wird“. Sein monumentales spätromantisches Werk hatte er um ein Vierteljahrhundert früher, im Jahre 1911, vollendet und inzwischen von seinem damaligen Stil Abstand genommen. ,Doch die Worte, die er zu dieser Zeit notiert hatte, zeigen die Stellung, die er seinem Werk beimaß: „Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung.“ Der Ursprung der dänischen Sage über den König Waldemar und seine Liebe zu Tove Lille, die durch die eifersüchtige Königin getötet wird, liegt im Mittelalter. Später wurde sie mit dem König Waldemar IV. in Verbindung gebracht, der im Jahre 1375 auf Burg Gurre verstorben war. Diese Fassung der Sage nahm Jens Peter Jacobsen, damals ein 21-jähriger Geschichtsstudent, im Jahre 1868 als Vorlage für sein dramatisches Gedicht Gurre-Lieder. Es erzählt über die Eifersucht der Königin Helwig, über die Vergiftung der Tove, deren Trauerzug von einer Waldtaube beschrieben wird. König Waldemar verfluchte in seinem Schmerz Gott und wurde daraufhin dazu verdammt, mit seinem Gefolge ewig als wilde Jagd durch die Nächte zu irren. Doch während Waldemars Mannen in ihr Grab zurückkehren dürfen, sucht er überall seine geliebte Tove, die, verwandelt in die Pracht der Natur, mit jedem Sonnenaufgang Unglück und Tod hinweggefegt hat.
Die deutsche Übersetzung von Robert Franz Arnold erschien im Jahre 1899, 14 Jahre nach dem Tod Jacobsens (er starb mit 38 Jahren an Tuberkulose). Der damals 26-jährige Schönberg, der gerade seinen Streichsextett Verklärte Nacht vollendet hatte, war tief beeindruckt. An der Vertonung der Gurre-Lieder arbeitet er elf Jahre von 1900 bis 1911. Nach seiner eigenen Angabe war das Werk im Grunde 1901 fertig, nur der Schlusschor sei lediglich als Entwurf geblieben. In den folgenden zwei Jahren setzte er die Arbeiten an der Instrumentierung fort, ließ das Werk dann aber sieben Jahre liegen. Das hatte mehrere Gründe: der Druck, Geld zu verdienen (Schönberg selbst behauptete, damals mehr als tausend Seiten Bearbeitungen für Operettenkomponisten geschrieben zu haben), die offensichtliche Unmöglichkeit, ein Werk dieses Umfangs und dieser Ansprüche für Interpreten aufzuführen, und vor allem sein eigener Stilwechsel, der sich im Laufe der Zeit ereignet hatte. Erst die Reaktion auf die Aufführung des ersten Teils im Jahr 1910 in einer Klavierfassung veranlasste Schönberg, das Werk zu beenden. Die Uraufführung fand zwei Jahre danach in Wien unter Franz Schreker unter großem Beifall statt.
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Schönberg hat für sein Werk einen kolossalen Klangapparat verwendet: fünf Solisten, einen Rezitator, einen Männerchor, einen gemischten Chor und großes Orchester mit 25 Holzbläser- und 25 Blechbläserinstrumenten, vier Harfen, Celesta, 16 verschiedenen Schlaginstrumenten (einschließlich Ketten) und einer zahlreichen Streichergruppe. Auch deshalb ist jede Aufführung der Gurre-Lieder ein großes Erlebnis. Das Werk ist bis auf das letzte Detail durchdacht. Schönbergs Schüler und Kollege Alban Berg führt in seiner Analyse der Gurre-Lieder 35 Motive an, die nicht nur Personen, sondern auch Naturerscheinungen (Sonnenuntergang, Sonnenaufgang, galoppierende Pferde u. a.) und verschiedene emotionale Zustände (Sehnsucht, Liebe, Angst des Bauerns, Trauer um Tove usw.) schildern. In einem Teil hat Schönberg zum ersten Mal seinen sog. Sprechgesang, den er später in seinem Pierrot lunaire konsequent angewendet hat, verwendet.
Die Erstaufführung der Gurre-Lieder in der damaligen Tschechoslowakei fand am 9. Juni 1921 am Neuen deutschen Theater unter Alexander Zemlinsky statt. An der Einstudierung war der Kapellmeister des Theaters, Viktor Ullmann, beteiligt. In der neueren Geschichte des tschechischen Musiklebens sind die Gurre-Lieder zuletzt beim Prager Frühling 2006 mit der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Zdeněk Mácal aufgeführt worden. Sie werden nun nach 17 Jahren auf ein tschechisches Podium zurückkehren und wer weiß, wie lange wir danach auf eine weitere Aufführung warten werden müssen!
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