„Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name (Amen). Auf der Welt, die nach Seinem Willen von Ihm erschaffen wurde. Sein Reich erstehe in eurem Leben, in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, schnell und in nächster Zeit. Sprecht: Amen!“ So beginnt Kaddish – eines der bedeutendsten Gebete des Judentums. Oft als Trauergebet verstanden, verkündet es vielmehr die Macht Gottes und die Unsterblichkeit Israels, nicht den Tod eines Verwandten oder den Glauben an ein Leben nach dem Tod.
Der Beginn der Tradition des Singens von Kaddisch während einer Trauerfeier geht auf das 13. Jahrhundert zurück, im 15. Jahrhundert wurde es dann obligatorisch, und zwar innerhalb eines Jahres nach dem Tod eines Verwandten. Der Text und die Form haben sich im 18. Jahrhundert stabilisiert. In der Musik wurde es unter anderem von Salamone Rossi im Jahre 1623 in seinem Werk Kaddish Shalem verwendet, mehrmals findet sich das Gebet auch bei Komponisten des 20. Jahrhunderts: bei Maurice Ravel in seinen Deux mélodies hébraïques (1914), bei Ernest Bloch in Avodat Ha-kodesh (Gottesdienst, 1933), Leonard Bernstein (Symphonie Nr. 3 „Kaddish“, 1963) oder Krzysztof Penderecki (Kadisz, 2005).
Die letzte, in der Reihenfolge 21. Symphonie von Mieczysław Weinberg Kaddish wurde im Jahr 1991 komponiert, fünf Jahre vor dem Tod des Komponisten. Das beinahe eine Stunde dauernde Werk ist den Opfern des Aufstandes im Warschauer Ghetto von 1943 gewidmet und betrifft auch das Schicksal der Eltern und der Schwester des Komponisten, die zwischen 1942–1944 in Polen von den Nazis ermordet worden waren (mehr über die tragische Geschichte der Familie Weinberg im Profil des Komponisten).
Weinberg hatte an der Symphonie gleichzeitig mit der Komposition für den Film Otče naš (Vater unser) des Regisseurs Boris Ermolaew gearbeitet. Der Film erzählt die Geschichte einer jüdischen Mutter und ihres Kindes, die nachts und im Winter die Stadt durchstreifen und auf diese Weise versuchen, dem Transport ins Ghetto zu entgehen und ihr Leben zu retten. Ihre Schritte führen sie auch an einer Kirche vorbei, in der das Vater unser gebetet wird. Schließlich werden Mutter und Kind halb erfroren entdeckt und brutal auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen. Die Skizzen zur Symphonie weisen auf das Lied Gustav Mahlers Das irdische Leben aus dem Zyklus Des Knaben Wunderhorn hin, konkret auf die Verse: „Mutter, ach Mutter, es hungert mich! / Gib mir Brot, sonst sterbe ich!“, worauf die Mutter antwortet: „Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!“. Einer der thematischen Schwerpunkte der Komposition sind die Violinsoli, eine Erinnerung an den Vater Weinbergs, dessen Violinspiel der Komponist als Kind hörte. Das Werk ist für großes Orchester bestimmt, das er aber nur selten in voller Besetzung verwendet. Außer der Solovioline spielt ein Kontrabass-Solo einen grotesk verzerrten Marsch, man findet wilde Imitationen von Klezmermusik und vom Soloklavier gespielte Zitate aus Frédéric Chopins Ballade Nr. 1 g-Moll, die im Ghetto oft erklungen war. Dies alles wird vom Solosopran gekrönt, der wie eine Engelsstimme von oben über dem Orchester schwebt.
Die Symphonie Kaddish gehört zu den persönlichsten Werken des Komponisten. Sie ist ein Klagelied über eine Welt, die es nicht mehr gibt, voller Lebenslust, grenzenlosem Leid und Hoffnung. Das Nationaltheater Prag wird dieses Meisterwerk als tschechische Erstaufführung präsentieren.